10. April – 20. Juni 2021

Kunstverein Harburger Bahnhof


In ihrer erweiterten malerischen Praxis widmet sich Elif Saydam (*1985, Calgary, lebt in Berlin) der Beziehung zwischen sozialen Kategorien und der Konstruktion von Geschmack.
Ausgehend von der Art und Weise, wie etwas ornamentiert ist, und den stillschweigenden aber auch ausschließenden Urteilen und Mechanismen, die damit verbunden sind, wirft Saydam Fragen nach dem Wert von Arbeit, nach Identifikationsimpulsen und sozialer Durchlässigkeit auf. Auf tiefgründige und humorvolle Weise geht sie den Verbindungen zwischen ästhetischen und sozialen Widersprüchen und deren grenzüberschreitenden Potenzialen nach.

Die Geschichte des Kunstverein Harburger Bahnhof bietet hierfür einen guten Ansatzpunkt: Bevor der frühere Wartesaal für Bahnreisende der 1. und 2. Klasse zur Kunstinstitution wurde, diente er zeitweilig als Spielhalle. Diese wechselhafte Vergangenheit und die damit einhergehenden wechselnden sozialen Spaltungen verdichten sich in der Geschichte seines Hinterzimmers. Der sogenannte Blaue Salon war reserviert für den Adel, wenn nicht, so wird es erzählt, für den Kaiser selbst. Mit einem flauschigen Spielhallen-Teppich verwandelt Saydam den Raum in eine chimärische Mischform. Der Teppich nimmt Bezug auf die exklusive Vergangenheit des Raumes und die handgemalten Motive an der Decke des Wartesaals ebenso wie jene Elendsorte, die sich häufig in der Nähe der einarmigen Banditen im Hinterzimmer von alten Kneipen finden lassen. Ein großer Teil des Lebens ist bestimmt vom Warten; Warten auf den schnellen Reichtum oder auf den Zug, der vielleicht niemals kommen wird.

Erinnern Sie sich an die Geschichte vom Zauberer von Oz? Dieses Märchen von vier Außenseiter:innen auf der Suche nach etwas, von dem sie glauben, dass es ihnen fehlt? Oz selbst ist ein Schwindler, der alle mit Illusionen täuscht, die nichts mit dem Wicht zu tun haben, als der er sich herausstellt. Es ist eine Geschichte für Kinder und eine fabelhafte Erzählung. Am Ende wird alles gut – so lautet die Fiktion mit der klaren Lösung. Im wirklichen Leben geht diese Suche immer und immer weiter, sie dehnt sich aus bis an die Grenzen des Erträglichen mit lauter falschen Versprechungen hinter jeder Ecke. Der Einfluss, den diese Verheißungen auf Arbeit und Konsum, auf Wertigkeiten, Geschmack und Klasse haben, ist im Gegenteil der strukturelle Antrieb, der das System am Laufen hält wie ein Perpetuum Mobile. Fortwährend entstehen neue Arbeitsformen und neue Konsument:innen, aber die Rollen, die es zu erfüllen gilt, damit die inhärenten Logiken des Systems nicht in sich zusammenfallen, sind festgelegt und manifestieren sich in Architektur und Symbolen.

Saydams Ausstellung verwandelt den großen Saal des Kunstvereins zur Kreuzigungsszene mit Hofkarten-Besetzung und beklagt das Oben, Unten und Dazwischen gesellschaftlicher Gruppierungen und ihrer ästhetischen Kategorien. An die Stelle religiöser Idole treten archetypische Kleidungsstücke, die die Rollenbilder des Konsums verkörpern, die Saydam genäht, bemalt, verziert und geschunden hat. Formal verweisen sie auf Varvara Stepanovas konstruktivistische Arbeiter:innen-Kleidung – prodezodezhda und sportodezhda –, mit denen neue Lebensweisen der post-revolutionären Gesellschaft ausgestaltet werden sollten. Saydams Arbeiten spannen buchstäblich die Widersprüche auf, die sich zwischen Sehnsüchten und endlos aufrechterhaltener Leistung auftun, und den symbolischen Einsatz, den es im Spiel um Erfolg zu erbringen gilt. Diese Verheißungen des guten Lebens – allesamt ausgerichtet auf das ‚Gewinnen‘ –, sind es, die in Saydams Arbeiten ständig wiederkehren, zusammen mit der unerträglichen Erschöpfung, die sie mit sich bringen.

Saydams malerische Eingriffe spielen mit dieser Zwiespältigkeit, indem sie abstrakte, verniedlichte Symbole neben eine eher traditionelle Bildsprache stellen und damit Wertzuschreibungen zwischen Trash und Ornament hinterfragen. Stellen Sie sich vor, Sie stehen vor einem einarmigen Banditen: Wie sind Weintrauben dargestellt und was repräsentieren sie? Stellen Sie sich vor, Sie stehen in einen königlichen Palast oder der Basilika Sagrada Familia: Welche Bedeutung haben Weintrauben hier? Der Umgang mit Symbolen und Objekten, die Arbeit und das Material, die in sie gesteckt werden, fließen in ihre ästhetische Wahrnehmung ein. Die damit verbundenen Affekte sagen etwas darüber aus, wie die Welt konstruiert ist und da sie stark von Hierarchien geprägt ist, sagen sie auch etwas aus über das Gewähren und Verweigern von Zugängen und Möglichkeiten. Zwischen Vorder- und Hinterzimmer, Decke und Boden stellt Saydam diese Ambivalenzen auch zur Beurteilung ihrer Arbeiten zur Disposition.

Kuratiert von Annette Hans.
Zur Ausstellung erscheint eine Publikation.

Elif Saydam studierte in Montréal, Kanada, und Frankfurt am Main. Ihre Arbeiten wurden international in Einzel- und Gruppenausstellungen gezeigt, unter anderem in der Kunsthalle Bern, Schweiz (2021), Tanya Leighton, Berlin (2020), Galerie Rüdiger Schöttle, München (2020), KunstWerke, Berlin (2018), Kunstverein Nürnberg – Albrecht Dürer Gesellschaft, Nürnberg (2016) und MMK Museum für Moderne Kunst, Frankfurt am Main (2016). Saydam hat auch an verschiedenen Radio- und Performance-Produktionen mitgewirkt und 2018 gemeinsam mit Vera Palme den Roman Desecration of Descent (Broken Dimanche Press) verfasst.

Bildnachweis: Fred Dott


Kunstverein Harburger Bahnhof von 1999 e.V.
im Bahnhof über Gleis 3 & 4
Hannoversche Straße 85
D-21079 Hamburg
Tel.: +49(0)40 76753896
www.kvhbf.de

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