15. September bis 4. November 2023
KOW


Eröffnung: 15. September, 12 Uhr, Bar ab 18 Uhr

Anlässlich der Berlin Art Week 2023 zeigen wir unsere erste Soloausstellung mit Peter Friedl. Die Schau des dreifachen documenta-Teilnehmers konzentriert sich auf skulpturale Werke der letzten Jahre, einschließlich eines neuen Projektes, und zeigt dabei auf, warum dieser herausfordernde Künstler seit über 30 Jahren so wichtig ist für die Gegenwart.

Peter Friedl ist Historiker. Und wie für Historiker üblich, erzählt Friedl Geschichte(n). Er erzählt sie, so könnte man sagen, aber nicht durch, und schon gar nicht zu Ende. Vielmehr schafft Friedl Schauplätze – griechisch „theatra –, an denen es etwas zu sehen gibt. Situationen, in denen sich etwas ereignet, oder sollte man präziser sagen: geneigt ist, sich zu ereignen. Wir stehen an skulpturalen Orten vor plastischen Figuren oder deren Hüllen, die augenscheinlich viel zu sagen und zu berichten haben – man traut es ihnen zu, sieht es ihnen an. So wie man es einer Schauspielerin zutraut und ansieht, die voll kostümiert die Garderobe in Richtung Bühne verlässt, und noch bevor das Stück beginnt, sieht man es kommen, ohne schon zu wissen, was gespielt werden wird.  Tatsächlich besteht das von Friedl bei KOW aufgestellte Personal aus berühmten ebenso wie vermeintlich marginalen Protagonistinnen und Protagonisten, die zu ihrer Zeit eine Rolle in Geschehnissen hatten, von denen wir mal mehr und mal weniger wissen, die als mehr oder weniger bedeutend angesehen werden, und die uns Friedl nun unausweichlich macht (solange wir bei der Sache bleiben, das heißt: zuschauen). Wer sind sie? Was haben sie getan? Was hat man ihnen angetan? Was ist geschehen? Was sieht man kommen? Was sind ihre Beziehungen zueinander und zu uns? Und was wissen wir von alldem nicht?  Was Friedl uns zeigt, sind offene Erzählmodelle und mithin auch Geschichtsmodelle, die alternativ, quer zu oder wider die Erzählungen stehen, in die wir in der Regel so gut eingeübt sind – oder die uns eingehämmert wurden. Der Künstler bricht sie auf, nicht, indem er Gegenerzählungen rund macht, sondern indem er, und das ist bemerkenswert, sein historisches Material in eine ästhetische Autonomie entlässt, die es freigibt für eine Neubetrachtung der Verhältnisse, in denen etwas (so) (oder so) erzählt werden kann.  Gehen wir ins Detail:

Sieben Podeste, jedes liebevoll gefertigt wie für eine bunte Zirkusarena, jedes eine kleine Bühne, Ort einer Exposition. Jedem (bis auf einem) beigefügt sind Piratenkostüme, fallengelassen wie nach einer beendeten Aufführung – oder bereitgelegt für eine noch kommende Darbietung? Darüber eine große grüne Flagge mit weißem Skelett, dem Zeichen der Piraterie. Was so einfach, ja lapidar im Erdgeschoss der Galerie ausgebreitet ist, birgt viel historisches und kritisches, auch ironisches Material, das fordert, sich ihm zu nähern. Jeder der „Schauplätze“ (s.o.) hat einen eigenen Untertitel, dahinter stehen sieben historische Figuren oder Zusammenhänge. Nicht nur Piraten, wie man vermuten könnte. Es sind reale und fiktive, periphere wie bekanntere Figuren der Geschichte, die Friedl hier aufruft. Figuren in einem größeren Spiel, in dem sie ihre Rollen hatten, die nun eine Bühne bekommen, die indes nicht sie, sondern wenn überhaupt wir betreten.    Da ist Benjamin Lay (1682–1759): Ein kleinwüchsiger und missgebildeter Quäker, der leidenschaftlich und voller Pathos öffentlich gegen die Sklaverei auftrat.  Da ist Rafael Padilla (1865/68–1917): Der gebürtige Afrokubaner erlangte als erster schwarzer Clown und Entertainer in Paris unter dem Künstlernamen Chocolat Berühmtheit.  Da ist Joice Heth (ca. 1756–1836): Die afroamerikanische Sklavin wurde rund 80-jährig an P.T. Barnum verkauft, den skrupellosen Event-Unternehmer, der sie als George Washingtons 161 Jahre altes Kindermädchen ausstellte. Um aus der Geschichte noch letzten Profit zu schlagen, ließ Barnum 1.500 Zuschauer für Heths öffentliche Autopsie Eintritt zahlen.  Black Caesar (Anfang 18. Jahrhundert): Ein aus Westafrika stammender Pirat, um den sich zahlreiche Mythen ranken und von dem man – wie von den meisten Piratinnen und Piraten – eigentlich wenig weiß.  Da ist auch die Dragon Lady, eine Nebenfigur in Milton Caniffs Comic Terry and the Pirates (1934), die als Stereotyp einer orientalischen Femme fatale Eingang fand in zahlreiche Hollywoodfilme. Zugleich ist sie ein Echo auf die mächtige chinesische Piratin Zheng Yisao (1775–1844). Ein Podest, betitelt Hunt the Squirrel, bezieht sich auf die Ballad Opera Polly von John Gay (1729). Eine schrille Geschichte voller Rollenwechsel, Travestie, Blackfacing und Piraterie, die in der Karibik spielt.  Und da ist M. Die Farben auf dem runden Podest entstammen der äthiopischen Flagge. Wer aber M. ist, das bleibt im Unbestimmten.  Und dann ist da noch die grüne Flagge mit dem Skelett. Titel: King Death. Ursprünglich waren Piratenflaggen, auch Jolly Roger genannt, schwarz. Grüne Flaggen sind aus dem islamischen Raum bekannt, so die libysche Flagge von 1977 bis 2011, aber auch heutige Flaggen der Hamas und des IS. Muslimische Piraterie dominierte vom 16. bis Anfang der 19. Jahrhunderts weite Teile des Mittelmeerraums. So wirft Friedls Flagge nebenbei Fragen nach Verteilungskämpfen in Vergangenheit und Gegenwart auf, die so real waren und sind, wie sie mit Widerstandsmythen und wilden Rebellenstorys einhergehen. No prey, no pay. So der Titel der Arbeit. Keine Beute, kein Lohn. So lauteten der Schlachtruf und der Moral-Kodex der Piraterie. Die obigen Figuren sind eingebunden in diese Logik oder widerstehen ihr. Das aufgebotene Personal und die dargelegten Zeichen beziehen sich vor allem auf Black History. Sie sind Teil einer (politischen) Ökonomie der Körper und ihrer Wege durch die Zeit, die dem Ziehen und Zerren ihrer Epochen an der physischen und moralischen Existenz unterworfen sind. Es sind Figuren, an deren Stelle wir symbolisch treten können, deren Podest wir einnehmen könnten, um an ihrem Beispiel inmitten dieser Polyphonie historischer Stimmen – was zu tun? Was zu sagen?  Keine Beute, kein Lohn. Wer nichts einnimmt, hat nichts. Der Satz könnte vom Finanzminister stammen, wenn er mal etwas Ehrliches sagen würde, und die Installation ließe sich durchaus auch als eine Allegorie auf den Neoliberalismus lesen. Aber die Formel trifft auch uns, und zwar direkt. Wer sich vor Friedls Arbeiten keine Erfahrung, keine Überlegung, und keine Stimme erkämpft (oder sie erbeutet), geht ärmer nach Hause, als die Geschichte erlaubt.   

Vier mit Textilien bespannte und geschmückte Kuben stehen im oberen Raum der Galerie; ihre Formen entstammen dem portugiesischen Straßen-Puppentheater, das ab dem 18. Jahrhundert als Teatro Dom Roberto bekannt wurde. Die einfachen kleinen Bühnen, barracas genannt, verbargen die Puppenspieler und erlaubten ein kritisches Spiel mit fiktiven Stimmen im öffentlichen Raum. An den vier barracas sind 22 stark individualisiert gestaltete Handpuppen angebracht, hängen leer vom Bühnenrand oder liegen am Boden. Das vierfache mobile Theater harrt seiner Aktivierung – aber es bleibt stumm und ohne Handlung, wie eine theatrale Modellanordnung.   In dieser Anordnung entwickelt Peter Friedl entlang der historischen populären Theaterform allein durch seine Auswahl von Textilien und durch das Personaltableau auftretender – oder vielmehr verfügbarer – Figuren eine Tour de Force quer durch Leben, Themen und Kontexte, Kontinente und Jahrhunderte, die mit der wechselvollen Geschichte der portugiesischsprachigen Welt verbunden sind.  Auftritt könnte zum Beispiel der sephardische Jude Abraham Zacuto haben (1452 – ca. 1515), der nach seiner Flucht aus Spanien am portugiesischen Hofe von König Dom João II. zum königlichen Astronomen aufstieg, bis er aufgrund der einsetzenden Judenverfolgung erneut gezwungen war, aus Portugal zu fliehen. Sein Almanach Perpetuum war lange Zeit eines der bedeutendsten theoretischen Werke für die Navigation auf See. Er teilt seine barraca unter anderem mit Königin Nzinga von Ndongo und Matamba (1583–1663), die berühmt war für ihr diplomatisches Geschick und ihre Beharrlichkeit im Widerstand gegen die portugiesischen Invasoren. Bereit zum Spiel wäre auch der armenische Kunstsammler und Philanthrop Calouste Gulbenkian, der 1955 in Lissabon als angeblich reichster Mann der Welt starb, nachdem er sein Vermögen im Ölgeschäft gemacht hatte. Ebenso Isabel dos Santos, geboren 1973, die erste Milliardärin des afrikanischen Kontinents, sowie ihr Vater Eduardo dos Santos, der von 1979 bis 2017 Präsident von Angola war und in den Sechzigern und Siebzigern eine der bedeutendsten angolanischen Befreiungsbewegungen gegen die Kolonialmacht Portugal anführte. Mit Ricardo Salgado (*1944) steht das ehemalige Oberhaupt der größten Privatbank Portugals, der  zur Verfügung. Oder António de Spínola (1911–1996): Der General war Portugals Übergangspräsident nach der Nelkenrevolution 1974. Er könnte auf Ilsa Lund alias Ingrid Bergman treffen, die in Michael Curtiz’ Klassiker Casablanca von 1942 im marokkanischen Exil auf das Visum wartet, um vor den Nazis über Lissabon in die USA zu fliehen. Oder auf Bonga Kuenda, den viel verehrten angolanischen Sänger (*1942). Auch ein Monster und der Teufel sind vertreten. Ihre Rollen? Ungewiss. Friedls Installation lässt sich lesen als die schlichte Wirklichkeit komplexer und niemals geradliniger oder logischer Zusammenhänge in geschichtlichen Verläufen (hier: der „portugiesischen“ Welt). Sie kann aber auch explizit als ein Statement gegen Populismen gelten, die kulturelle Räume und Identitäten konstruieren, unter deren Dach sich die 22 Figuren dieses schweigenden Puppenspiels niemals bringen lassen würden.

Im kleineren Raum des Obergeschosses der Galerie hängen drei Marionetten von der Decke herab, und so stehen sie am Boden, im Lichtkegel eines Scheinwerfers. Abwesend bleiben indes erneut ein Dramaturg und eine spielbare Vorlage. 

Von links nach rechts:  Anne. Anne Bonny (ca. 1699–1720 oder länger). Die wohl berühmteste Piratin der Geschichte hat eine abenteuerliche Biografie. Aus Irland soll sie stammen, in der Karibik soll sie aktiv gewesen sein. Als uneheliches Kind eines Plantagenbesitzers soll das Mädchen als Junge ausgegeben worden sein, heiratete dann ins Piratenmilieu ein, heuerte als Mann verkleidet an und traf alsbald eine gleichfalls als Mann verkleidete Frau, mit der sie fortan gemeinsame Sache gemacht haben soll, geschäftlich wie privat, und weithin gefürchtet. Ob Anne Bonny hingerichtet wurde oder in Ruhe alt wurde, ist ungeklärt. Überhaupt weiß man kaum, ob man Reales über sie weiß. Biografien und Portraits von Piratinnen und Piraten sind fast immer Imaginationen der Nachgeborenen. Peter Friedls Anne trägt kreolische (bzw. métisse-) Züge und ähnelt keiner historischen Vorlage, sondern einer Person aus Friedls eigener Biografie. Koba. Die Hauptfigur in Aleksandre Qasbegis Vatermord war ein kaukasischer Bandit, der in Georgien als Volksheld verehrt wird. Der junge Stalin wählte sich den Namen Koba als nom de guerre. Blind Boy. Die Figur hat Ähnlichkeit mit dem kleinen Peter, dem Friedl als Kind, bezieht sich aber auch auf eine andere Theaterfigur: Blind Boy war ein Marionettencharakter in den unveröffentlichten Manuskripten (The Drama for Fools) des großen Theaterreformers Edward Gordon Craig (1872–1966). Craigs radikale Kritik am Schauspieltheater mündete in das Konzept der „Über-Marionette“, die den Menschen auf der Bühne ersetzen sollte, um jeglichen Realismus hinter sich zu lassen. Spätestens diese Marionette macht deutlich, wie resistent sich das im Scheinwerferlicht stehende Trio gegen einfache Zuschreibungen stellt, wie viel Distanz es produziert – wieviel ästhetischen Raum dieses Werk herstellt. 

Peter Friedls neueste Arbeit, entstanden für die Ausstellung, ist eine Hütte als Modell. Sie hängt schräg von einem keilförmigen Wandpodest, dem Absturz nahe. Friedl hat sie mit viel Akribie der Hütte nachempfunden, die in Charlie Chaplins The Gold Rush (1925) hoch oben in den verschneiten Bergen Unterschlupf bietet – und gegen Ende des Films von der Bergkuppe herabfällt, nachdem sich Chaplin und sein Schicksalsgenosse Big Jim in letzter Sekunde und in Slapstick-Bravour aus der Hütte retten konnten. Aber es geht nicht um Chaplin. Friedl bedient sich eines berühmt und verfügbar gewordenen Bildes. Indem er die Film-Hütte nachbaut, knüpft er an Fragestellungen an, die bereits seine Architekturmodelle der Werkgruppe Rehousing (2012–2019) behandelten: Während neue Bauten in der Regel von einem Modell ausgehen, denen sie nach Fertigstellung aber nie genau gleichen, sind umgekehrt auch modellhafte Nachbaue bestehender (und zumal verschwundener) Bauten niemals genaue Abbilder der Realität. Es sind Annäherungen, zum Teil Imaginationen – eine Realismuskritik, die die Rolle der Kunst im Kern berührt. Friedls Annäherung an die Hütte aus The Gold Rush verkompliziert das Verfahren noch weiter. Für den Schwarzweiß-Film wurden vor hundert Jahren, soweit bekannt, verschiedene Modellbauten verwendet: für die Außenaufnahmen und für die Innenaufnahmen im Studio. Friedls Hütte hingegen ist real und in Farbe, präzise bis ins kleinste Detail. Sie ist kein Abbild – sie ist ein Bild. Ein sehr genaues Bild, das seine ästhetische Autonomie behauptet, ja konstruiert durch die Wegnahme von Kontext (Film) und die Reduktion auf Anschauung. Ein für Friedls Werk typisches Verfahren. Und so hängt da also eine kleine Hütte an der Galeriewand und droht von ihrem Wandsockel herabzufallen, was sie – als Skulptur – dann freilich doch nicht tut. Ihr prekärer Zustand ist auf Dauer gestellt und drängt darauf, eine Allegorie zu sein. Es ist eine einfache, ärmliche Behausung, eine schlichte Wohnstatt, wie es sie millionenfach in der Welt gibt. Dass sie am Abgrund kurz vor dem Absturz hängt, würden Millionen von Menschen bestätigen, wenn man sie 2023 nach ihren Lebensverhältnissen und Zukunftsaussichten, nach dem Neigungswinkel ihrer eigenen Hütte und Existenz fragt. Prekäre Lebenslagen und die kapitalistische Dynamik dahinter thematisierte The Gold Rush 1925 eindrücklich. Die Gründe für diese Prekarität? Sind damals wie heute komplex. Und die eine Wahrheit, die alles erklärt, existiert nicht. Everyone is a conspiracy theorist – denn über die Gründe für so viele Schieflagen gibt es nicht viel mehr als Erklärungsmodelle. Annäherungen. Versuche, das Reale zu (be)greifen und der Position der eigenen Hütte Namen zu geben. Etwas muss passiert sein, sonst stünde nicht so viel am Abgrund. Aber was war es? Aus der Geschichte kommen keine Antworten und auch keine Hilfe. Friedls Hütte ist leer, die Tür steht offen, wer auch immer darin war, ist herausgefallen. Es gibt nichts mehr zu korrigieren oder auszubalancieren. Schief ist schief, und Fall ist Fall. Es ist eine düstere, pessimistische Arbeit, die Peter Friedl da gefertigt hat. Alle Genauigkeit seiner (Re)Produktion vermeintlicher Tatsachen führt zu nichts anderem als dem Umstand, dass da eine Hütte ist. Und die ist und bleibt in prekärer Lage.

Alexander Koch

Bildnachweis: Peter Friedel, No prey, no pay, 2018–2019


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