»Verwandte, Bekannte, Fremde – alle strömen herein. Die Schuhe tummeln sich im Flur. Sie geht rein. Mittlerweile haben die Schuhe den Flur erobert, dabei ihre Partner verloren. Sie glaubt, sie sprechen zu hören, sprechen über die Ereignisse des Tages. Sie spitzt ihre Ohren, um dem Geflüster folgen zu können. Dann hört sie plötzlich die Stimme einer älteren Frau, die sagt: ›Weine meine liebe Schwester, weine nur, friss es nicht in dich hinein.‹ Das Trauerspiel hat begonnen: Die Frauen stehen schon fleißig in der Küche und bereiten das Essen vor. Die Mädchen kümmern sich darum, dass der Tee gebrüht und zu den Gästen gebracht wird und die Schuhe im Flur geordnet werden. Ein Tablett, das Klirren der Teegläser… Das kleine Mädchen verteilt den Tee an die Gäste, ohne genau begreifen zu können, was gerade vor sich geht. Aber sie ist äußerst glücklich darüber, diese Aufgabe erteilt bekommen zu haben. Ihre Brust füllt sich mit einem Gefühl des Stolzes.

›Taziye‹ – ›Geduld wünschen‹ – ist der traditionelle sieben- bis vierzehntägige türkisch-muslimische Trauergebrauch, der aus verschiedensten Ritualen besteht und von jeder Gemeinschaft individuell ausgelegt wird. Dabei werden die eigenen vier Wände zunächst zum Bestattungshaus. ›Başınız sağ olsun!‹ sagt eine Person, die den Angehörigen gegenüber ihr Beileid bekundet. Bedeutung: Mein Beileid. Wortwörtlich: Eure Häupter sollen heil bleiben. ›Allah sabır versin‹ sagt eine andere Person – das heißt so viel wie ›Möge Gott Geduld bringen‹. In ›Taziye‹ soll den Trauernden jene Geduld gebracht werden, die sie darin bestärken soll, ihre Trauer durchzustehen. Es soll Menschen, deren Verwandte und Nächste verstorben sind, ermutigen, Geduld und Stärke zu zeigen, sie trösten und Raum für Trauer schaffen. In der Studie Death rituals, religious beliefs, and grief of Turkish women* berichten unterschiedliche türkische Frauen über ihren Verlust und den Umgang mit der Trauer in ihren Gemeinschaften. Dabei wird deutlich, dass sich die Frauen unter Druck gesetzt fühlen, bestimmte Gefühle und Reaktionen zu zeigen, die von außen an sie herangetragen werden. Besser als sie, wissen die Hochrangigen ihrer Gemeinschaften, wie Trauer von statten gehen soll.

Der Fernseher darf nicht eingeschaltet werden, da er die Trauer stört. Vergnügen ist nicht erlaubt – wehe jemand lacht. Doch wie die Zusammenkunft immer mehr eine Eigendynamik entwickelt, vergnügt sich die ein oder andere Person trotzdem und wird natürlich dabei erwischt und ermahnt. ›Taziye‹ entpuppt sich wahrlich als ein Theater der Trauer: Emotionen und Gefühle werden in Weinen und Gebeten zum Ausdruck gebracht, um den Erwartungen und den Blicken der Anderen gerecht zu werden. Eigentlich ist der Raum für die Trauernden geschaffen, doch jede Person versucht, sich den gesellschaftlichen Regeln zu ergeben und versucht, der ihnen zugeschriebenen Rolle gerecht zu werden, während sie es nicht lassen kann immer wieder aus ihnen herauszubrechen. So passiert es, dass gefälschte, aber auch wahre Emotionen sich in ihren absurdesten Formen breit machen. In übertrieben wirkender Gestik wird sich auf den Boden geworfen, damit auch deutlich wird, wie groß der Verlust wirklich ist. Jede Person weiß zu bestimmen, wie getrauert werden sollte. Dabei soll das Ritual doch auch eine Rückkehr in die Normalität darstellen? Es soll sich zeigen, dass hier nichts wie gewöhnlich ist und auch nicht zum Gewöhnlichen zurückkehren wird. Wie auch, wenn Trauer über die Toten nicht gestillt werden kann. Zurückbringen kann sie hier niemand. Am Ende ist doch die Trauerfeier mehr den Trauernden als den Toten gewidmet. Gerade im Trauern stellt sich doch heraus, dass es keine richtige Methode geben kann.

Wir folgen wieder den Augen des Kindes, das die sich darin entwickelnden Paradoxien wahrnimmt. Während in dem einen Raum der neueste Tratsch bequatscht wird, in dem nächsten Zimmer Geschäfte besprochen werden, in einem anderen geweint wird, wird in einem weiteren Raum gelacht. In der Trauer zeigt sich doch die Sehnsucht vor allem nach einem: Normalität. Alle tragen irgendwelche Aufbewahrungsboxen oder Schüsseln in der Hand. Das Essen stapelt sich bis an die Decke. Bei jedem Bissen sagen alle: ›Es soll an die Seele geschickt werden.‹ Ist es möglich, dass diese ganzen Gebete und das viele Essen durch ein Transportmittel nach oben befördert werden? Beim Helva essen wird darauf gehofft, dass die Toten im Traum wiedererscheinen. Wurde auch viel Essen von den Beileidsbekundendern mitgebracht? Wenn ja, dann war die verstorbene Person wohl ein guter Mensch – so sagt es sich.

Gegenstände und Personen nehmen immer mehr ihren festen Platz ein. Objekte und Subjekte tauschen immer wieder ihre Rollen, geraten miteinander in Symbiose. Das gestickte Tuch legt sich über den Fernseher, die Frauen stellen sich in die Küche und kümmern sich darum, dass der Tisch erneut gedeckt werden kann, während die Männer sich die Mägen vollstopfen, die Teller sich stapeln und die Mädchen sich wieder um die Schuhe und den Tee kümmern. Die Schwiegertöchter arbeiten in der Küche. Unaufhörlich arbeiten ihre Hände. Großmütter, Mütter, Töchter, Schwiegertöchter, Schwestern – sie alle sind Verwalter*innen der Trauergemeinschaft.

Fast schon traurig ist das Mädchen, als sie feststellen muss, dass die Menschen das Haus langsam verlassen – war das gemeinsame Trauern in all seinen Ungewöhnlichkeiten doch auch zu etwas Vertrautem und Schönem geworden. Was von der Trauer bleibt, sind die Relikte aus den vergangenen sieben Tagen: ein Teeglas, ein Radio, ein Lederschuh – seelenlos. Alles wurde nach oben geschickt.

Eröffnungstext von: Damla Arican
Bildrechte: Kunst- und Kulturstiftung Opelvillen Rüsselsheim, © Aslı Özdemir, Detail aus ALLES WIRD NACH OBEN GESCHICKT, 2021


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